Auf dem inneren Auge blind
Aphantasie: Das fehlende Vorstellungsvermögen
Die meisten werden es kennen: In Gedanken schwelgen und dabei vor dem inneren Auge den letzten Urlaub Revue passieren lassen. Unser Vorstellungsvermögen erscheint uns oft selbstverständlich, doch für Menschen, die unter Aphantasie leiden, ist es das keinesfalls. Was Aphantasie genau ist und ob du selbst betroffen bist, erfährst du hier.
Die Definition von Aphantasie
Aphantasie beschreibt das Phänomen, dass Betroffene keine bildliche Vorstellungskraft besitzen. Dieses Phänomen wurde bereits im Jahr 1880 von Francis Galton, einem britischen Naturforscher, entdeckt, jedoch bis heute kaum erforscht. Galton gilt bis heute als einer der Väter der Eugenik (Erbgesundheitslehre). Er bat 100 erwachsene Männer, sich ihren Frühstückstisch vorzustellen. Zwölf von ihnen schafften es nicht, sich die Situation bildlich vor Augen zu führen. Die „Breakfast Study“ gilt als der Startschuss der Erforschung des Aphantasie-Phänomens. Menschen, die unter Aphantasie leiden, können sich keine bildlichen Vorstellungen machen, sie haben eine „Leere im Kopf“.
Stell dir vor: Du tauchst in ein Buch ein, die Landschaft und die Mimik des Hauptcharakters werden bildhaft beschrieben. Wird während des Lesens deine Fantasie angekurbelt? Taucht die Szene bildlich vor deinem inneren Auge auf? Wenn ja, wirst du mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht unter Aphantasie leiden.
Die Aphantasie betrifft nicht nur Bilder, sondern auch Musik: Betroffene können sich Melodien oder Texte nach dem Hören nicht mehr in Erinnerung rufen – Ohrwürmer bleiben also auch aus. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Krankheit, sondern um eine Beeinträchtigung. Ähnliche nicht sichtbare Beeinträchtigungen, wie Gesichtsblindheit (Prosopagnosie), sind eine vergleichbare Form: Betroffene können sich keine Gesichter merken, auch wenn sie die Person schon etliche Male gesehen und gesprochen haben. Tagträume können uns einen Moment aus der Realität holen und uns an jeden Ort der Welt bringen, doch Aphantisten können keine Strände visualisieren, keine Urlaubserinnerungen hervorrufen oder Dinge, mit denen sie schöne Erinnerungen verbinden, bildlich ins Gedächtnis rufen.
Viele Betroffene von Aphantasie bemerken ihr fehlendes Vorstellungsvermögen erst spät, da es im Alltag keinen großen Einfluss auf ihr Leben hat. Oft wird es erst dann deutlich, wenn im Gespräch mit Freunden Sätze wie „Stell dir mal vor…“ fallen. Um eine Aphantasie frühzeitig festzustellen, eignen sich Fantasiereisen für Kinder. Bei Aphantasisten schlagen die Fantasiereisen nicht an und können dadurch im Normalfall bereits in der Kindheit entdeckt werden und entsprechend behandelt werden. Zuletzt gab das deutsche Model Bonnie Strange bekannt, dass sie ebenfalls unter Aphantasie leidet – erkannt hat sie das jedoch erst im Erwachsenenalter.
Eine Studie zeigt: Zwei Prozent der Weltbevölkerung leiden unter Aphantasie
Auch wenn die Aphantasie bislang wenig wissenschaftlich erforscht ist, gibt es doch bereits einzelne Untersuchungen und Studien zu dem Thema. Rund zwei bis drei Prozent der Weltbevölkerung leiden darunter, häufiger betroffen sind Männer: Bei einer Studie fanden Forscher heraus, dass 19 von 21 Personen, die mit Aphantasie diagnostiziert wurden, männlich sind.
Die Stärke des visuellen Vorstellungsvermögens wird mithilfe einer Magnetresonanztomographie des Gehirns abgelesen. Aphantasie generell stellen viele Ärzte jedoch durch Schilderungen der Betroffenen fest, wodurch die Ursachen schwer zu erkennen sind. Durch neuere Untersuchungen, wie visuellen Tests, erhoffen sich Forscher, in Zukunft klare Ursachen und deutlichere Ergebnisse liefern zu können. Forscher gehen bereits jetzt davon aus, dass Aphantisten Informationen im Gehirn anders verarbeiten und zudem andere Hirnregionen benutzen. Aktuell werden objektive Tests durchgeführt, bei denen sich Probanden beispielsweise einen rosa Elefanten vorstellen sollen und dann auf einem Wimmelbild diesen Elefanten suchen sollen: Aphantisten fällt dies schwerer, weil sie im Vorhinein keine klare Vorstellung vor Augen haben. Menschen, die Vorstellungskraft besitzen, stellt sich das Gehirn bereits vorher auf die Erscheinung des Elefanten ein: So finden Sie ihn deutlich schneller als Aphantisten. Bei diesen Tests werden Gehirn-Scans bei den Probanden durchgeführt, um festzustellen, welche Gehirn-Region bei der Aufgabe aktiviert wird.
In einer Studie aus dem Jahr 2015 fanden Forscher heraus, dass Betroffene im Wachzustand unter Aphantasie leiden, nicht jedoch im Traum: Aphantasie betrifft nur die bewusste Visualisierung im Wachzustand, nicht die unbewusste. Im Traum können vor dem inneren Auge Bilder und Geräusche aus dem Gedächtnis problemlos veranschaulicht werden.
Die häufigsten Fragen zum Thema Aphantasie
Lässt sich Aphantasie vorbeugen?
Da es noch keine wissenschaftlich bewiesenen Ursachen für Aphantasie gibt, ist auch keine Vorbeugung möglich. Forscher gehen jedoch davon aus, dass es bereits angeboren ist und nicht plötzlich im Erwachsenenalter auftritt. Wenn du nicht unter Aphantasie leidest, hast du auch nicht zu befürchten, dass du irgendwann an Aphantasie erkrankst.
Ist Aphantasie heilbar?
Eine allgemeine Heilung für Aphantasie gibt es nicht. Forscher gehen davon aus, dass durch therapeutische Hilfe die Vorstellungskraft verstärkt werden kann. Das hängt jedoch auch von der Ausprägung des Phänomens ab und lässt sich nicht pauschal bestätigen. Beeinträchtigt die Aphantasie dein Leben stark, suche professionelle medizinische Hilfe auf und informiere dich über die Therapiemöglichkeiten.
Können Menschen mit Aphantasie leichter meditieren?
Im Grunde kann jeder Mensch die Meditation lernen, Menschen mit Aphantasie fällt es jedoch leichter, sich lediglich auf ihre Atmung (Pranayama) zu konzentrieren und eine völlige Leere in ihrem Kopf zu schaffen. Betroffene legen ihre Achtsamkeit auf den jetzigen Moment und schweifen nicht mit ihren Gedanken ab.
Gibt es ein übermäßiges Vorstellungsvermögen?
Das Gegenteil von Aphantasie ist das Phänomen der Hyperphantasie: Menschen mit Hyperphantasie können sich fast jede Situation genau vor dem inneren Auge führen. Betroffene sprechen häufig darüber, dass ihre Bilder im Kopf so real sind, dass sie oftmals nicht zwischen echtem Leben und Fantasie unterscheiden können.
Ursachen für ein fehlendes Vorstellungsvermögen
Genau wie die Aphantasie selbst, sind auch die Ursachen kaum erforscht. Dadurch, dass es vielen Betroffenen erst spät auffällt, werden an jungen Personen wenige Tests gemacht und ausgewertet. Forscher gehen jedoch davon aus, dass eine Aphantasie vererbbare, neurologische Ursachen haben könnte – dass sie also bereits bei der Geburt besteht, jedoch unbemerkt bleibt. Für Fantasie und Vorstellungskraft ist es wichtig, dass bestimmte Hirnareale miteinander kommunizieren. Bei Aphantisten verarbeitet das Gehirn Informationen jedoch auf andere Weise und nutzt auch andere Hirnareale, sodass das Vorstellungsvermögen nicht gegeben ist.
Selbsttest: Leidest du unter Aphantasie?
Bist du dir unsicher, ob du unter Aphantasie leiden könntest? Das „Vividness of Visual Imagery Questionnaire” (VVIQ) gilt als offizieller Forschungstest und wurde 1973 vom britischen Psychologen David Marks erfunden. Mache hier einen schnellen Selbsttest, um einzuschätzen, ob du selbst betroffen bist. Wenn du dir unsicher bist, suche einen Arzt auf uns lasse dich testen.
1. Gesichter
Stell dir einen Freund oder ein Familienmitglied vor deinem inneren Auge vor. Schließe dafür die Augen. Kannst du Gesichtszüge erkennen oder besondere Merkmale? Versuche dir vorzustellen, wie er lächelt oder böse schaut.
2. Film
Hast du vor nicht langer Zeit einen Film geschaut? Erinnerst du dich an bestimmte Szenen und kannst sie dir bildlich ins Gedächtnis rufen?
3. Urlaub
Denke zurück an eine vergangene Urlaubserinnerung. Wie sah deine Unterkunft aus? Welche Farbe hatte das Bett? Kannst du dir die Erinnerung zurück in deinen Kopf rufen?
4. Gewitter
Unabhängig von der jetzigen Wettersituation, stell dir ein Gewitter vor. Blitze, Donner und dunkle Wolken: Fällt es dir leicht, diese Szene bildlich und akustisch zu visualisieren?
5. Essen
Begib dich gedanklich zurück zu deiner letzten Mahlzeit. Kannst du sie sehen? Wie war das Essen auf dem Teller angeordnet?
Auswertung
Haben diese Fragen Bilder in deinem Kopf hervorgerufen, die klar und deutlich sind? Dann ist es unwahrscheinlich, dass du unter Aphantasie leidest. Wenn du dir zwar logisch denken konntest, wie die Situation auszusehen hat, aber keine Bilder vor deinem inneren Auge aufgetaucht sind, spricht das für eine Aphantasie. Sprich mit deinem Arzt über mögliche Behandlungsmöglichkeiten, falls du dich durch die Aphantasie eingeschränkt fühlst.
Du hast Fragen oder Anregungen? Schreib mir:
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